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Nach wie vor ist es erstaunlich, wie frei sich Amtspersonen in unserem Land bewegen können. Wo sonst trifft man in der S-Bahn die Parlamentspräsidentin oder auf dem Velo die Gemeinderätin.
Es ist uns auch möglich, Politikern persönlich eine Nachricht zu schicken. Das Beste: Sie antworten! Nicht immer, aber doch oft. Yoshiko Kusano hat vier weibliche Amtspersonen aus unterschiedlichen Stufen unseres politischen Systems im Alltag begleitet: Ursula Wyss (SP) ist Gemeinderätin in Bern; Beatrice Simon (BDP) ist Regierungsratspräsidentin und Finanzdirektorin des Kantons Bern; Christa Markwalder (FDP) ist Nationalratspräsidentin und Doris Leuthard (CVP) Bundesrätin.
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«Gestern habe ich im Bus Simonetta Sommaruga gesehen und ihr zur gewonnenen Abstimmung gratuliert.» - «Toni Brunner geht auf dem Heimweg von der Session immer an unserer Bar vorbei. Mann, dass der nicht mehr kassiert als böse Blicke...» - «Den Eingang der Petition hat mir der Bundespräsident persönlich und handschriftlich verdankt, cool.» - «Der Regierungsrat ist unser Nachbar, wenn wir in die Ferien wegfahren, schauen sie zu unserem Garten.»
Das alles ist so passiert. Für uns vielleicht keine so grosse Sache, aber Menschen aus anderen Ländern staunen nicht schlecht. Die Frau eines Bekannten konnte nicht glauben, dass der Regierungsstatthalter am Feierabend mit dem Velo nach Hause fährt, einen Schwatz über die Hecke abhält und dann in ein ganz normales Haus geht. Sie ist aus einem afrikanischen Land und sich gewohnt, dass die Strasse eine halbe Stunde gesperrt wird, bevor der Minister mit seiner Fahrzeugkolonne losfährt. Ein Freund kommt aus Kolumbien. Bei einem Böllerknall an einem beliebigen Wochenende zuckt er zusammen. Wieso ist nicht klar, er will nicht darüber reden. Aber klar ist, dass bis vor Kurzem Politiker und Vertreter des Staates und der Oberschicht in der Öffentlichkeit ermordet und entführt wurden. In unseren Nachbarländern schliesslich scheint die Distanz zur Politik recht gross. Weil sie keine Milizsysteme haben und die Hybris in einem grossen Land exponentiell zunimmt? Vielleicht.
Und in der Schweiz können wir mit unseren Bundesparlamentariern unkompliziert in Kontakt treten. Sie nutzen den ÖV, sind selten von Personenschützern umgeben und nehmen sich in der Regel Zeit für normale Menschen. Das ist wahrlich nicht selbstverständlich. Die Schweden kannten das in einem ähnlichen Masse. Die Ermordung des Premierministers Olof Palme 1986 änderte aber die Ausgangslage drastisch. Auch in der Schweiz ist die Zeit nicht stillgestanden. Amtsgebäude sind teilweise gesichert und Vertreter der Exekutive werden von Bodyguards beschützt [11]. Die vorangehenden Bilder sind aber keinesfalls inszeniert, sie finden tatsächlich täglich so statt. Ein Umstand, zu dem es Sorge zu tragen gilt.
Die Recherche zum Thema ist erschütternd und pessimistisch. Obwohl man sich bewusst sein muss: Die Medien erzählen die Geschichte der Durchlässigkeit und des Kontaktes der Eliten mit der Bevölkerung nicht gebührendem. Viel besser verkauft sich Hass, Terror und Psychopathie. In der Schweiz hat es bereits einige Opfer von Amokläufen gegeben. Der verheerendste, auch im Kontext dieser Reportage, ist sicher der Amok von Friedrich Leibacher am 27.09.2001 im Zuger Kantonsparlament. Nur kurze Zeit nach den Anschlägen in den USA und wenig vor dem Grounding der Swissair, ging in diesen Tagen Etwas zerbrochen. Heute rechnen Schulkommissionen, Veranstalter und der Verwaltungsapparat mit Attacken. Die Quelle ist dabei unerheblich. Für uns ist vielmehr erstaunlich, dass die Bewegungsfreiheit von Amtspersonen in der Schweiz nach wie vor gross ist und Bewachung diskret garantiert wird. Das Bundeshaus zum Beispiel wird durch den Bundessicherheitsdienst geschützt. Der Einlass wird kontrolliert und trotzdem ist es einfachen Bürgern und Bürgerinnen möglich, während der Session Räte zu treffen. Das ist eine erstaunliche Situation und Resultat eines massvollen Umgangs mit dieser heiklen Frage.
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MEDIENSPIEGEL
AMOK, BELEIDIGUNGEN UND BRANDSTIFTUNG
- Das Attentat auf Olof Palme | Eintrag auf Wikipedia
- «Chronologie der Amokläufe in der Schweiz» | Swissinfo.ch | 05.07.2004
- «Eine Bluttat erschüttert die Gegend, die so gerne "Modellregion" wäre» | NZZ | 04.04.2004
- «Flüchtiger Rentner schiesst erneut auf Polizei» | Berner Zeitung | 10.09.2010
- «Wie sich Schweizer Schulen gegen Amokläufe wappnen» | von Mario Stäuble, Tagesanzeiger | 18.12.2012
- «Erst Mörgeli, jetzt Maurer: In der "Rundschau" geraten SVPler in Rage» | von Rolf Cavalli, Aargauer Zeitung | 17.04.2012
- «Der Punkt, an dem man nur noch schreien möchte» | von Jan Stroppes, Tagblatt der Stadt Zürich | 15.03.2016
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AMOK IM ZUGER KANTONSPARLAMENT
- Tagesschau SRF am Tag des Attentates | auf Youtube | 27.09.2001
- «Wenn man ihm nur ein Mal Recht gegeben hätte» | von Thomas Angeli und Ueli Zindel, Beobachter | 12.10.2001
- «Ich höre Leibachers Fluchworte» | von Gian Signorell (Interview mit den überlebenden Kantonsparlamentariern Karl Beschart und Moritz Schmid), Beobachter | 13.09.2006 | Bild in der Schweizer Illustrierten
- «Wann genau verliert ein Mensch den Boden unter den Füssen?» | von Nina Merli, Tagesanzeiger | 27.09.2011
- «Stöhlker: "Das Zuger Attentat 'erleichterte viel'"» | von Thomas Knellwolf, Tagesanzeiger | 05.10.2011
- «Mörder Leibacher als Held der Neonazis» | von Jana Avanzini, Zentralplus | 20.11.2014
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