Helvetia, Dir zum 1. August
Gedanken aus Politik, Kultur & Gesellschaft zum Nationalfeiertag. Mit der neuen, fünften Strophe des Schweizerpsalms.
Inhalt
Neben den Fotostrecken haben Personen aus Kultur, Gesellschaft und Politik Kommentare verfasst. Werfen Sie einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis mit den verschiedenen Autoren und Autorinnen.
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Der Tag der Traditionen . Sibel Arslan | Die Schweiz seit 1848 - eine Verkettung von glücklichen Umständen . Alec von Graffenried | Die Schweiz ist ein Elysium . Nathan Marcus | Mini Schwiiz - Dini Schwiiz . Venanz Nobel | Was hat ein Pedometer mit der Schweiz zu tun? . Rosmarie Quadranti | Meine Reise in die Schweiz . Ayoub Rasoli | Die Schweiz und der Wolf . Andrea Fischer-Schulthess | Die geliebten Nestbeschmutzer . Christoph Trummer
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Unsere Nationalhymne hat eine neue Strophe erhalten. Das verdankt der Schweizerpsalm einem Projekt der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft SGG. Textlich eine tolle Sache, von der Melodie her bleibt alles beim Alten. Wir können die Fussballer schon verstehen, die Sache ist gar sperrig zum mitsingen. Kein mitreissendes Kriegsgeheul, kein scheppernder Beat, kein Groove für ein volles Stadion. Pathos ja, davon hingegen gibt es reichlich. Nun, wir haben eine Alternative:
Jedem Kommentar ist nämlich ein Stücklein Musik zur Seite gestellt. Die Songs haben einen mehr oder weniger direkten Bezug zu den Texten. Allesamt sind sie tolle Beispiele musikalischen Schaffens aus der Schweiz - zwei Songs sind international. Vielleicht ist ja für den Einen oder die Andere eine Trouville darunter. Wer alle Videos zusammen anschauen, oder zur Lektüre hören mag, findet hier die Playlist. Mehr Helvezin-Musik gibt es auf den Compilations von #GoVoteCH (#001 Hip Hop | #002 Rock & Pop | #003 Elektro).
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Büzlä vor de eigete Hütä - Mir tünd dä Dreck id Welt usäschüttlä - Büzlä vor de eigete Hütä - Mir tünd dä Dreck id Welt usäschüttlä
Mit äm Schüfeli und äm Bäseli - Si sägäd „c’est la vie“ si sägäd „luäg uf di“!
Büzlä vor de eigete Hütä - Mir tünd dä Dreck id Welt usäschüttlä - Büzlä vor de eigete Hütä - Mir tünd dä Dreck id Welt usäschüttlä
Vowägä diä Welt sig am End - Luäg mir hend ganz suberi Händ - Mir baued üs ä Huus - Do numä für üs uf
Mir baued üs ä Heckä - Mir luäged nöd um dä Eggä - Mir baued üs ä Gstell - Döt werded Bäsä anegstelt, zum go
Büzlä vor de eigete Hütä - Mir tünd dä Dreck id Welt usäschüttlä - Büzlä vor de eigete Hütä - Mir tünd dä Dreck id Welt usäschüttlä
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Der Tag der Traditionen
Der 1. August, an dem gemutmasst im Jahr 1291 der Rütlischwur stattfand, ist ein Tag, an dem Traditionen und Bräuche aufleben. Die Trachten werden aus dem Schrank geholt, Höhenfeuer angezündet und sogar in den Städten hört man Jodel- und Alphornklänge. Die Schweiz hat aber noch ganz andere schöne Traditionen.
Das Miteinander verschiedener Sprachen und Religionen: Schon vor der Gründung des Bundesstaates 1848 bestand der eidgenössische Staatenbund aus Kantonen mit unterschiedlichen Sprachen und Religionen, damals Katholiken und Reformierten. Schon seit 168 Jahren leben nun also in der Schweiz Menschen mit Religionen und unterschiedlichen Sprachen friedlich zusammen. Eine Tradition, eine mühselig erstrittene Errungenschaft und ein Vorbild, an dem sich andere Länder, aber auch Europa oder die Weltgemeinschaft, durchaus orientieren können. Wir sollten dieser Tradition Sorge tragen, gerade weil sich die Anzahl der Sprachen und Religionen in der Schweiz seit 1848 nochmals deutlich erhöht hat.
Die humanitäre Tradition: Sie wird viel erwähnt und ist heute leider all zu oft nur noch eine Floskel, die nur noch bedingt der Realität entspricht. Die Schweiz ist zwar immer noch Bewahrerin der Genfer Konventionen, welche den Kern des humanitären Völkerrechts bilden. Und Gastgeberland für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, aber in der aktuellen Flüchtlingskrise verhält sie sich nicht humanitärer oder engagierter als andere Staaten. Trotz mehrfach revidiertem Asylrecht ist es Flüchtlingen ohne Visum nicht möglich, direkt in die Schweiz einzureisen um Schutz zu beantragen. Menschen, die aus Nachbarstaaten einreisen, werden dorthin zurückgeschickt. Die Möglichkeit, auf einer Botschaft Asyl zu beantragen, wurde bei uns vor nicht allzulanger Zeit auch abgeschafft. Es ist höchste Zeit, die humanitäre Tradition wieder aktiv zu leben und das Asylrecht neu zu beleben. Das heisst, es muss wieder legale Möglichkeiten geben in der Schweiz Asyl zu beantragen.
Traditionen sind mehr als Folklore. Es geht dabei auch um Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Am 1. August sollten wir uns neben Buurezmorge, Klöpfer und Raketen auch wieder an unsere Geschichte der humanitären Tradition erinnern. In diesem Sinne wünsche ich einen schönen 1. August.
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Die Entstehung der Schweiz 1848 und die Bildung der direkten Demokratie im 19. Jahrhundert kann uns viel für die Gegenwart und die oft etwas konfuse Weltlage aufzeigen. Die Schweiz gibt es nicht einfach, sie wurde zu dem, was heute als Erfolgsmodell gilt.
Die Geschichte der Alten Eidgenossenschaft war eine Folge von Bürgerkriegen, Reisläuferei, Herren und Untertanen. Der Erfolg bestand in Pensionen und Renten aus der Kriegswirtschaft. Die Schweiz, ein Staatenbund mit komplizierten Verträgen, herrschenden Kantonen, unterdrückten Gebieten und Zugewandten Orten. 1848 wurde die moderne Schweiz gegründet, welche die BewohnerInnen aus diesem unbefriedigenden Zustand befreite und ein Zweikammersystem nach dem Vorbild der einzigen damals existierenden Republik, den USA, etablierte. Die Romandie und das Tessin wurden als gleichwertige Partner anerkannt, die Religionsfreiheit brachte den konfessionellen Frieden, jedenfalls zwischen Reformierten und Katholiken. Dank dem Binnenmarkt und der Freiheit stellte sich ein wirtschaftlicher Boom ein. Erst 1874 (Referendum) und 1891 (Initiative) kamen die direktdemokratischen Instrumente dazu, sie waren der Preis dafür, dass der Bund sich weitere Kompetenzen in Gesetzgebung, Sicherheitspolitik und Infrastruktur (Eisenbahnbau) sichern konnte. Ende des 19. Jahrhunderts fand sich die Schweiz mit einem System wieder, das zwar breiteste Mitsprachemöglichkeiten, aber kaum vernünftige Steuerung erlaubte. Es gab zuviele «Checks and Balances». Mehrheiten im Referendum sind in der Schweiz nur zu haben, wenn eine klare Mehrheit von 70 bis 80 % des Parlaments hinter einer Vorlage steht, sonst droht die Ablehnung. Daher müssen Vorlagen in der Schweiz «referendumssicher» gestaltet werden; die Schweiz wurde zur Meisterin des Kompromisses und des Ausgleichs.
Aus der Entwicklung der modernen Schweiz können wir viel lernen für die heutigen weltweiten Herausforderungen. «Der Starke ist am mächtigsten allein» aus Schillers Tell gilt nicht mehr. Die Kraft der Schweiz liegt im Zusammenschluss und der Zusammenarbeit. Zusammenarbeit führt zu besserer Governance und damit zu mehr Freiheit und Wohlstand für alle. Die Schweizerinnen und Schweizer sind nicht «von Natur aus» kompromissfreudig, das schweizerische Verfassungssystem hat uns zu Ausgleich und Kompromissfähigkeit gezwungen. Die Befriedung einer zuvor sehr kriegerischen Gesellschaft mit einer neuen Verfassungsordnung basierend auf Demokratie, Mitbestimmung, Bürgerrechten ist möglich.
Aus der Geschichte der Schweiz seit 1848 können wir Hoffnung schöpfen für Frieden und Wohlstand auch in Zukunft – weltweit.
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Die Schweiz ist ein Elysium: Die Züge kommen pünktlich, die Strassen sind sauber und das Gesundheitswesen funktioniert. Eine Volksabstimmung zur Aufkündigung der Personenfreizügigkeit produziert keine Panik auf den Finanzmärkten. Grossprojekte wie der neue Gotthard-Basistunnel werden im Kostenrahmen fertiggestellt und termingerecht der Öffentlichkeit übergeben. Es herrscht Vollbeschäftigung, der Franken ist stark, die Integration von Einwanderern funktioniert.
Woran das liegt, kriegen wir oft zu hören: Am Fleiss der Schweizer, deren Bodenständigkeit und gesunder Skepsis. Am politischen System das durch seine Schwerfälligkeit, gerade dadurch, Stabilität und fiskalische Nachhaltigkeit fördert. An der Ordnungsliebe, Genauigkeit und Pünktlichkeit - hochgehaltene Werte in Schweizer Betrieben. An der Sprachenvielfalt, der Berufslehre, dem Milizsystem und der vermeintlichen Neutralität. Wirklich erklären können all diese Schweizer Eigenarten aber nicht, weshalb das Land kontinuierlich mit Wohlstand und Erfolg aus der Reihe tanzt.
Die Vertreter der Schweizer Wirtschaft heben gerne die Chemische und die Lebensmittelindustrie, die vielen KMUs und die Präzisionstechnik hervor. Die Wirtschaft der fleissigen, sauberen und präzisen Nachbarn im Norden wurde erst von den Nationalsozialisten kaputt gemacht und litt danach unter den Folgen des Kalten Krieges. Die Schweiz hingegen verdiente am 2. Weltkrieg und am Holocaust mit, und vor allem auch am Wiederaufbau Europas. Trotzdem, allein durch die 1944 eingeführte Verrechnungssteuer kamen 2011 dem Bund 3,7 Milliarden Franken, satte 7,5 % der Staatseinnahmen, zu. Dafür ist fast ausschließlich die Versteuerung ausländischen Vermögens in der Schweiz verantwortlich. Rund ein Viertel des globalen Privatvermögens wird hier verwaltet. Kumulativ und zusammen mit dem Finanzsektor, der sich für rund 10 % des Nationalprodukts verantwortlich zeichnet, ergibt das enorme Summen. Da kann ein neuer Tunnel durch die Alpen auch mal etwas mehr kosten.
In Hollywood’s dystopischem Kassenschlager «Elysium» von 2013 findet sich Matt Damon auf einer übervölkerten, hungernden und von Schadstoffen vergifteten Erde wieder. Die Reichen und Mächtigen haben den Planeten verlassen und leben nun im Orbit auf demokratisch regierten Raumstationen namens Elysium. Matt Damon, aufgrund eines Arbeitsunfalls verstrahlt, hat nur noch wenige Tage zu leben. Seine Freundin Matilda leidet an Leukämie. Beide könnten auf dem für sie verschlossenen Elysium geheilt werden, denn dort geniessen die Bürger kostenlose Behandlung in sogenannten «Med-Bays». Sie heilen Krankheiten schnell und schmerzlos, revidieren Alterungsprozesse oder generieren neue Organe. Aber die Bewohner der Erde haben keinen rechtmässigen Zutritt und können die «Med-Bays» nicht benutzen. Wenn Sie den Film nicht gesehen haben, sollten Sie mal schauen wie’s ausgeht.
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So und ähnlich heisst in den letzten Jahren auffallend Vieles. Wenn es ums Geschäft geht, wurde die Armbrust, die jahrzehntelang Erkennungszeichen von Schweizer Qualitätsprodukten war, längst im staubigen Estrich entsorgt. «Swissness» kommt in Zeiten globalen Handels noch viel smarter daher als die Uhr gleichen Namens.
Doch im schon fast allgegenwärtigen Kampf darum, wer der echteste Schweizer sei, wird im Landesinnern nicht nur viel Käse erzählt sondern schon fast wieder wie bei der Schlacht in Marignano festes Tuch in die Schlacht geführt. Nämlich mit dem für frostige Winde geschaffenen Edelweisshemd. Das kann allerdings auf höchstens 150 Jahre Geschichte zurückblicken. Bezeichnend dafür, wie sehr die Schweiz sich aktuell zu verschweizern versucht, ist die Aussage von Therese Jenni, Mitinhaberin der Bieler Firma Jenni Hemden. «Sie selber habe die Hemden eigentlich nicht gekannt, als sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Alfred vor 35 Jahren das sogenannte Märithüsli im Freilichtmuseum Ballenberg gegründet habe», beichtet ausgerechnet ein markentechnisches Aushängeschild der Schweiz in der Zeitung «Südostschweiz» am 15.12.2015. Dass solche Geständnisse noch nicht mit dem Verlust des roten Passes geahndet werden, erstaunt im Kulturkampf ein wenig.
Dass Jenische von ausgedehnten Handelsfahrten eine «Wiener Orgel» als Vorlage des ersten Schwyzerörgelis mitbrachten, ist eine unbelegte Legende. Tatsächlich aber haben sie von Anfang an zur schweizweiten Verbreitung des Instruments beigetragen. Handlich wie es ist, war es dazu auserkoren, die fahrenden Musikanten, die damals meist eigentlich Wandernde waren, zu begleiten. Dass die Jenischen nicht nur Hühner- und Strauchdiebe sondern veritable Förderer der Schweizer Kultur waren, wissen heute Volkskundler und Musikhistoriker, die zum Beispiel belegen, dass Jenische jene Musik erfunden hatten, die heute «Bündner Ländlermusik» heisst.
Doch der Minderheitenschutz wackelt in unserem Land. Politiker wollen europäische Abkommen kündigen, «Schweizer Recht» über «fremde Richter» stellen. Wen wundert es da noch, dass die Minderheit mit leidvoller Geschichte sich selbst das Kreuz auf den Arm tätowiert, sich als «stolze Schweizer Fahrende» bezeichnet, in der Hoffnung im Strudel der aufziehenden künftigen Schweizer Geschichte nicht erneut mitgerissen zu werden und unterzugehen. Doch mit Helvezin ist es wie mit jeder Medizin. Paracelsus wusste: «Gift ist eine Frage der Dosis».
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Das Pedometer – wohl besser bekannt als Schrittzähler – wurde 1780 von einem Schweizer Uhrmacher erfunden. Es ist also ein Schweizer Qualitätsprodukt. Bezeichnenderweise wird es immer noch gebraucht, eigentlich je länger je mehr. Gegenüber seiner ursprünglichen Form hat es sich aber der Zeit angepasst und sich auf die heutigen Anforderungen ausgerichtet. Dabei macht es im Grunde immer noch das gleiche wie zu Beginn: es zählt die Schritte die gemacht wurden.
Allerdings kann ein Schrittzähler nur die Quantität messen, die Qualität der gezählten Schritte muss anderweitig beurteilt werden. Und deshalb hat ein Schrittzähler mit der Schweiz zu tun: Einerseits eine Schweizer Erfindung. Andererseits ist auch die Schweiz ein der Zeit angepasstes Erfolgsmodell, dass es heute – wahrscheinlich je länger je mehr – braucht. Denn als Antwort auf rechtspopulistische Strömungen hier, aber auch europaweit, die den Menschen Angst machen wollen, braucht es das Erfolgsmodell Schweiz. Die Schweiz ist doch deshalb so erfolgreich, weil seine Menschen Innovationskraft besitzen, einen starken Drang haben zu forschen, zu entdecken und Zusammenarbeit über die Grenzen hinaus suchen. Das bedeutet, dass die Stärke unseres Landes in seiner Offenheit, seiner Neugier auf Unbekanntes und die Lust darauf Fremdes einzubeziehen, besteht. Mit diesen Eigenschaften und der uns eigenen Beharrlichkeit und Strebsamkeit, wird es der Schweiz weiterhin gelingen Herausforderungen als Chance zu sehen. Chancen wie sie die Digitalisierung oder die Industrie 4.0 darstellen.
Diese Herausforderungen werden dann zu Chancen, wenn die Schweiz weiterhin in der bewährten, aber auf die heutige Zeit angepasste Form antwortet. Das bedeutet weiter mutige Schritte nach vorne zu machen. Denn diese Schritte zählen, nicht die zaghaften und schon gar nicht die die wir rückwärts gehen. Und natürlich werden wir weiterhin in gewohnter Manier die gemachten Schritte laufend auf die Qualität hin beurteilen, selber und durch andere. Und wie sagte einmal ein deutscher Theologe: Bewegung macht beweglich und Beweglichkeit kann manches in Bewegung setzen.
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Mein Bruder und ich sind aus Deutschland mit dem Bus in die Schweiz gekommen. Wir sind zwischen zwei und drei Uhr morgens im Bahnhof Zürich angekommen. Dort warteten wir zwei auf einen Landsmann oder jemanden, der unsere Sprache spricht. Aber es war niemand dort. Etwa um fünf Uhr habe ich zu meinem Bruder gesagt, er soll auf dem Gleis 15 warten, dass ich etwas erledigen gehe. Plötzlich kamen mir zwei Polizeibeamte aus dem Warteraum entgegen.
Einer fragte mich, ob ich einen Pass habe oder über einen Ausweis verfüge. Ich sagte nein und er antwortete, dass ich in dem Fall mit ihnen kommen muss. Ich sagte ihm, dass mein Bruder auf dem Gleis warte, dass sie ihn holen sollen und ich dann mit ihnen gehen würde. Aus den zwei Polizisten wurden erst drei und dann vier. Sie versuchen mich mitzunehmen, aber es gelang ihnen nicht. Ich wehrte mich und sagte «bringt meinen Bruder, dann folge ich euch ohne Widerstand». Sie akzeptierten und sagten mir auch, dass das sei richtig.
Als ich meinen Bruder wieder sah, entspannte ich mich. Wir gingen gemeinsam zur Polizeistation. Dort wurden wir in zwei separate Räume gesperrt. Dort verbrachten wir vielleicht einen Tag, sie gaben uns weder Brot noch Wasser. Es kam eine junge Person, um uns verschiedene Dinge zu fragen. Anschliessend wurden wir in ein offizielles Gefängnis gebracht. Dort blieben mein Bruder und ich drei Tage lang. Wir wussten nicht, wann wir wieder frei werden würden. Auf einmal kam ein Richter und sagte uns, dass wir ein Schweizer Gesetz verletzt hätten. Gemäss Artikel 353 müssten wir für ein Jahr ins Gefängnis. Er sagte uns aber auch, dass wir noch sehr jung seien und fragte, ob wir das Gesetz kennen. Schliesslich sagte er, dass drei Tage für uns ausreichen und so kamen wir plötzlich wieder frei. Wir waren sehr glücklich.
Die drei Tage in Haft waren sehr schwer für uns. Wir konnten weder die Sonne sehen, noch hatten wir Ahnung wie spät es ist. Wir sahen nur zur Essenszeit zwei Augen der Wächter. Wir waren in einem Raum, in dem es kaum Licht hatte. Es gab nur eine Lüftung. Ich fragte meine Bruder «wie geht’s dir?» und er sagte, dass es ihm gut gehe. Man brachte uns zu einem Flugplatz. Ich sagte zu meinem Bruder «wohin werden sie uns wohl deportieren». Danach setzten sie uns in zwei separate Wagen und brachten uns in das geschlossene Camp in Kreuzlingen für UMA («unbegleitete minderjährige Asylsuchende», Anm. d. R.) Wir kannten die schweizerischen Sitten und Gewohnheiten nicht. Dort habe ich aber viele Freunde gefunden. Wenn ich mit ihnen zum Essen ging, sagten sie uns, dass sei die schweizerische Küche. Im Camp in Kreuzlingen konnten wir von 09:30 bis 11.30 zum Einkaufen nach Draussen gehen. Im Camp in Kreuzlingen blieben wir 17 Tage, danach wurden wir in ein unterirdisches Camp nach Bern transferiert (die Zivilschutzanlage in Gümligen Siloah, Anm. d. R.) Im Camp «Siloah» waren wir mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Wir waren neun Monate dort. Es war keine besonders gute Erfahrung. Nach 9 Monaten wurden ich und mein Bruder nach Jegenstorf transferiert. Wir sind bis jetzt in diesem Familiencamps.
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Es war ein mal ein kleines Mädchen mit schweinsrosa Wangen und Waden und weizigem Haar. Es hatte ständig ein rotes Käppchen auf, darein gestickt ein weisses Kreuz. Ihre Grossmutter hatte es genäht und das Mädchen trug es Tag und Nacht, denn es liebte seine Grossmutter sehr. Die Alte war grosszügig, hatte immer ein offenes Haus und ein warmes Herz. Zumindest sah das Mädchen sie so. Es fühlte sich geborgen bei der Grossmutter, die schon allen Kummer richten würde, und deren Kuchen stets gross, frisch und lecker waren.
Was ihm keiner sagte: Da draussen in dem Wald lauerten Wölfe darauf, dass die Grossmutter endlich eine der ihren würde. Eine so genannte Gewehrwölfin.
Es kam wie es wohl kommen musste. Eines Tages besuchte das Mädchen seine Grossmutter – und kaum hatte es das Häuschen betreten, wusste es, dass hier etwas ganz und gar nicht mehr stimmte. Die Grossmutter lag im Dämmer, die Decke bis über die Nasenspitze hochgezogen. Muffig und trüb war alles, obschon draussen die Sonne schien.
«Grossmutter», fragte das Mädchen, «Warum riecht es hier so ranzig?» - «Ach was», brummte es unter der Decke hervor, «das bildest du dir bloss ein. Warst halt schon immer ein gar Empfindliches. Komm setz dich zu mir.» Das Mädchen gehorchte und linste verstohlen zu dem Ding hinüber, das seine Grossmutter sein sollte. «Grossmutter, warum hast du so grosse Ohren?» - «Damit ich deine Klagen besser hören kann.» - «Aha. Aber Grossmutter, warum hast du eine so grosse Nase?» - «Hähä, damit ich deine Angst besser riechen kann, Kleines.» - «...Grossmutter, warum hast du so mächtige Pranken?» - «Damit ich dich besser packen kann!» - «Aber, aber... Grossmutter, warum hat du so ein grosses Mau.....» Doch da war die Grossmutter der ewigen Fragerei müde und verschlang das arme Ding mit Haut und Käppchen.
Tief in ihrem Gedärm sagten sich die wahre Grossmutter und das Mädchen gute Nacht. Und warten seither auf den Herrn Jäger, der alles wieder so hinschiessen und -schlitzen soll, wie es vielleicht einmal gewesen ist.
Die Sonne zumindest scheint noch immer auf das braune Dach. Und ab und zu hört man Schüsse gellen. Sie kommen vom Schiessplatz drüben, zu Amtszeiten natürlich, damit der Herr Jäger dann gerüstet wäre, sollte Betrübnis drohen. Von aussen, selbstredend. He ja, von wo denn sonst?
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«La Suisse n’existe pas», stand am Schweizer Pavillon an der Weltausstellung 1992. Der verantwortliche Künstler Ben Vautier hatte einen Kommentar machen wollen zur Frage, ob nur zusammenpasst, was sich versteht: Ob ein Land mit vier Sprachen also gar nicht existieren dürfte. Gemeint war es achtungsvoll: Dass sie existiert ist ja nicht abzustreiten. Verstanden wurde es als Provokation.
Die bürgerliche Seite des Parlaments schäumte, der Bundesrat beschwichtigte. Aber das Kunstwerk blieb dort [SRF | TSR]. 10 Jahre später kam es bei der EXPO 02 zu ähnlichen Szenen [WOZ | NZZ] als die kritische Theatergruppe 400asa auftrat. Auch sie befassten sich mit der Frage, was unsere Identität als Schweizer_Innen ausmacht.
Die Identitätsfrage war eines der zentralen Themen auch für «unseren» Max Frisch: Bin ich der, den die anderen in mir sehen? Und was, wenn ich mich nicht erkenne in dem Bild, das die anderen von mir haben? Auch bei Frisch hatte das politische Dimensionen: Was wenn ich als Mensch nicht in die Konventionen passe: Als unverheiratet lebendes Paar im Zürich der 50er Jahre etwa, oder als Freund des Sozialismus in anti-kommunistischen Zeiten. Seinen «Wilhelm Tell für die Schule» haben ihm viele Menschen im Land nie verziehen, weil er vom Mythos des rebellischen Volkshelden kaum etwas übrig liess. Aber: Das Buch ist erschienen, und es ist bis heute erhältlich.
Dass viele «unserer» KünstlerInnen auch «Nestbeschmutzer» sind, darf uns also freuen: Es beweist uns, dass wir tatsächlich in einem freien Land leben. Dass das nicht selbstverständlich ist, bekommen wir in den Nachrichten immer wieder auf beklemmende Weise vorgeführt, auch aus entwickelten und angeblich demokratischen Ländern. Bei uns darf man Fragen stellen, man darf auch nachfragen. Man bekommt sogar eine Bühne dafür. Das ist gut aus vielen Gründen: Nachfragen bedeuten meistens, dass es auch eine andere Sichtweise geben könnte. Fragende lernen mehr. Gefragte denken mehr nach.
Was macht unsere Schweiz aus also? Eine Idee dazu: Vielleicht liesse sich ja der philosophische Gassenhauer von Descartes etwas umfunktionieren und kann zum Motto für unsere «Identität» werden: «Ich denke, also bin ich.»
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