«Sehr geehrte Jenische und Sinti, Sie bereichern unser Land.»
Bern, 15.09.2016 - Bundesrat Alain Berset
Inhalt
Ich erinnere mich gerne an meine Kindheit. Da war viel im Lot. Bei uns zuhause klingelten ab und zu fremde Menschen und fragten meine Mutter irgendwas. Sie hat ihnen Messer und Scheren mitgegeben und eine kurze Zeit später kamen die fremden Menschen damit wieder zurück. Danach musste ich immer ganz vorsichtig sein, weil die Haushaltswerkzeuge waren plötzlich richtig scharf. Wer die fremden Menschen waren wusste ich nicht.
Text: Beni Lehmann
zur FECKERCHILBI | 2016, BERN
Bundesrat Alain Berset | Rede vom 15.09.2016
«Kinder der Landstrasse» | Bildstrecke
«Le vent nous portera» | Bildstrecke
Zitate und Fragmente | Bildstrecke
«Capitano» | Essay von Franziska Rothenbühler
-
-
unterstützen | GO HELVEZIN “1-99” | SMS an 488
Start | Helvezin
Jenische und Sinti bereichern die Schweiz
Sehr geehrte Jenische und Sinti
Ich muss sagen: Das ist eine ganz besondere Chilbi. Denn sie steht nicht einfach für Vergnügen und fröhlichen Rummel. Sondern diese Chilbi ist auch ein kultureller Ort. Und, noch verblüffender: ein politischer Ort. Podiumsdiskussionen, Wanderausstellungen, Lesungen - das sprengt den gängigen Chilbi-Begriff. Chilbi heisst ja typischer-weise eher: Achterbahnen und AutoScooters, Zuckerwatte und Schiessbuden. Kurz: Es ist eine etwas andere Chilbi.
Womit wir beim entscheidenden Stichwort wären: etwas anders. Der jenischer Autor Venanz Nobel hat die vertraute Halb-Distanz ihrer Kultur beschrieben in Bezug auf die Kultur der Sesshaften - oder der «Bauern», wie die Jenischen sagen: «Wir essen, trinken, musizieren, genau wie Sie, nur manchmal ein bisschen anders. Es gibt bei uns solche, die Schwyzerörgeli spielen, allerdings meist ein bisschen anders. Andere wiederum spielen Gitarre, Geige oder Bass, auch das meist ein bisschen anders.»
Land der Minderheiten
Diese etwas andere Sicht auf scheinbar Vertrautes, diese etwas andere Kultur der Jenischen und Sinti - sie erinnert uns an das, was die Schweiz zusammenhält: Wir sind kein Volk mit Minderheiten, wir sind ein Volk der Minderheiten. Wir sind alle «etwas anders».
Was uns verbindet, ist gerade nicht eine einheitliche Sprache oder Religion. Die Vielfalt der Lebensweisen, der Kulturen, des Blickes auf die Welt: Das ist eine immense Stärke unseres Landes, denn sie bewahrt uns vor einer Verhärtung unserer Identität und vor geistiger Eindimensionalität.
Entscheidend ist natürlich auch unsere Mehrsprachigkeit. Auch das Jenische gehört bekanntlich dazu. Bundesrat und Parlament haben es im Rahmen der europäischen Sprachencharta als territorial nicht gebundene Sprache der Schweiz anerkannt.
Wir müssen ständig herausfinden, wer wir sind, was die Schweiz ausmacht. Das schützt uns bis zu einem gewissen Grad vor einer Politik, die sich einfach an der Mehrheit ausrichtet und dabei Minderheiten ausschliesst.
«Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse»
Aber immun gegen eine Mentalität, die scharf zwischen «uns» und «den anderen» trennt, ist auch die vielfältige Schweiz nicht. Die erschütternde Geschichte des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute zeigt uns, dass vor nicht allzu langer Zeit auch bei uns in der Schweiz ein menschenverachtender Umgang an der Tagesordnung war. Nur, weil man sich anmasste, bestimmen zu können, welche Menschen «normal» und welche nicht «normal» und damit minderwertig sind.
Insgesamt wurden 586 Kinder und deren Familien Opfer dieser Verfolgung. Bis 1973 wurden im Rahmen der Aktion jenische Kinder gewaltsam und mit Hilfe der Behörden von ihren Eltern getrennt und in Erziehungsheime, psychiatrische Kliniken oder Pflegefamilien untergebracht.
Sie wurden mehrfach diskriminiert. Die Eltern durften ihre Kinder nicht selber aufziehen. Die Kinder durften nicht mit ihren Eltern aufwachsen. Sie wurden ausgenutzt und misshandelt. Das deklarierte Ziel der Aktion war, die Menschen zu angepassten Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Tatsächlich aber wurden sie von der Gesellschaft ausgeschlossen - der jenischen und der schweizerischen.
Pro Juventute handelte nicht allein. Gemeinden, Kantone, kirchliche Institutionen haben mit dem Hilfswerk zusammengearbeitet. Auch das Bundesgericht hat die Arbeit gestützt. Vor 30 Jahren hat sich der damalige Bundespräsident Alphons Egli im Nationalrat für die Beteiligung des Bundes an der Aktion entschuldigt. Eine sehr wichtige Entschuldigung, auf die Sie lange gewartet haben. Die Entschuldigung und die finanzielle Entschädigung können das Leid der Opfer natürlich nicht rückgängig machen.
Was wir tun können, ist dieses düstere Kapitel der Schweizer Geschichte allen bekannt zu machen. Nicht als ferne historische Episode, sondern als Mahnung aus der jüngsten Vergangenheit. Als Mahnung, die Erinnerung aufrechtzuhalten für künftige Generationen. Dass Ähnliches sich nie wiederholen darf. Dass die Gesellschaft alle Menschen vor Diskriminierung schützen muss.
Notre responsabilité est engagée
Nous sommes responsables de la façon dont la Suisse a traité les Yéniches et les Sintés. Et c’est une page sombre de notre histoire, dont nous pouvons apprendre quelque chose.
J’aimerais dire aux pessimistes, à ceux qui répètent à l’envi que « c’était mieux avant » : Vous vous trompez. La Suisse d’aujourd’hui est bien plus ouverte, bien plus humaine que celle d’hier. Nous sommes beaucoup plus sensibles aux droits des minorités que durant l’après-guerre. Sans même parler de la Suisse pendant la guerre.
Cette Suisse au visage plus humain, il faut la préserver et la renforcer. Justement parce qu’en Europe, on assiste à un durcissement des mentalités. Justement parce que les minorités doivent à nouveau justifier leur identité, leur mode de vie, et aussi le fait qu’elles sont « un peu différentes ».
Anerkennung als Jenische und Sinti
Die Schweiz hat 1998 das Übereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten ratifiziert. Damit wurden die schweizerischen «Fahrenden» als nationale Minderheit anerkannt. Der Bundesrat hat 2001 festgehalten, dass damit alle Jenische und Sinti gemeint sind, unabhängig davon, ob sie fahrend leben oder nicht. Das heisst: Sie - Jenische, Sinti - sind als nationale Minderheit anerkannt.
Dieses Übereinkommen ist wichtig, denn damit hat die Schweiz Ihnen etwas versprochen: die Schweizer Jenischen und Sinti müssen ihre Kultur pflegen und weiter-entwickeln können. Dazu gehören die fahrende Lebensweise, genügend Stand- und Durchgangsplätze, die Sensibilisieren der Behörden und der Öffentlichkeit und die Förderung der jenischen Sprache und Kultur. So haben es Bundesrat und Parlament in der neuen Kulturbotschaft festgehalten.
Im April haben Sie meinem Departement eine Petition überreicht. Darin fordern Sie, dass sie auch so genannt werden, wie sie sich selber nennen, nämlich «Jenische» und «Sinti». Und eben nicht einfach «Fahrende», weil viele von Ihnen nicht fahrend leben. Ich anerkenne diese Forderung nach Selbstbezeichnung. Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Bund Sie künftig «Jenische» und «Sinti» nennt. Und dass künftig auf den allgemeinen Begriff «Fahrende» verzichtet wird. Das ist nicht Wort-klauberei, mit Sprache schafft man Realität.
Politisches Engagement
Die Petition zeigt auch: Die Jenischen und Sinti werden zunehmend politisch aktiv. Das ist ein gutes Zeichen, denn das bedeutet eine echte Normalisierung der Verhältnisse. Jenische und Sinti wurden jahrzehntelang nicht ernst genommen. Ihr politisches Engagement ist deshalb nicht selbstverständlich. Es zeigt aber, dass Sie sich von der Schweiz zunehmend ernst genommen fühlen.
Die von Ihnen vorgebrachten Forderungen, sie alle werden eingehend geprüft, engagiert diskutiert und in demokratischen Prozessen entschieden. Die Frage der Stand- und Durchgangsplätze nimmt in diesen Diskussionen einen wichtigen Platz ein. Bundesrat und Parlament haben in der Kulturbotschaft deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Verhältnisse ungenügend sind und sich in den letzten 15 Jahren nicht wesentlich verbessert haben.
Die vom Bund eingesetzte Arbeitsgruppe zur fahrenden Lebensweise hat wichtige Arbeit geleistet für den Aktionsplan des Bundes, der derzeit fertiggestellt wird. Die Schaffung von Stand- und Durchgangsplätzen wird dort thematisiert. Die Verantwortung dafür liegt hauptsächlich
bei den Kantonen und Gemeinden. Wir können aber jetzt schon feststellen: Wir sind heute so weit wie noch nie: das politische Bekenntnis ist da, Behörden und Öffentlichkeit sind viel stärker sensibilisiert.
Die Schweiz ist ein Land, das heftig um Kompromisse ringt und das sämtliche Akteure fordert. Das sollte uns jedoch nie von harten Debatten abhalten. Denn Debatten stärken unser Land, solange der gegenseitige Respekt gegeben ist. Sie verbinden uns, solange allen bewusst ist, dass die Rechte von Minderheiten am besten in einem Rechtsstaat aufgehoben sind, in dem alle gleich behandelt werden und alle vor Diskriminierung geschützt sind.
Vorrechte - und seien sie auch noch so plausibel begründet - sind nur kurzfristige Triumphe einzelner Bevölkerungsgruppen. Aber sie beschädigen das Prinzip der Rechtsgleichheit langfristig - und schaden damit sämtlichen Bürgerinnen und Bürgern eines Landes.
Sehr geehrte Jenische und Sinti
Sie bereichern unser Land. Durch ihre Kultur, die wir auch hier an der Feckerchilbi erleben dürfen. Und indem sie uns daran erinnern, was die Schweiz zusammenhält: wir sind alle Minderheiten - sprachlich, religiös, kulturell, sozial - und finden trotzdem immer wieder zueinander.
Bern | 15.09.2016 | Rede von Bundesrat Alain Berset anlässlich der Feckerchilbi
-
-
unterstützen | GO HELVEZIN “1-99” | SMS an 488
Start | Helvezin
Kinder der Landstrasse
«Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreissen.»
Alfred Siegfried
-
-
Unter dessen Leitung wurde 1926 das Projekt «Kinder der Landstrasse» von der halbstaatlichen Stiftung Pro Juventute ins Leben gerufen.
Rund 600 jenische Kinder waren Betroffene des Programms. Bis es 1972 schliesslich eingestellt wurde, aufgrund von Artikeln im «Beobachter». Die Opfer wurden fremdplatziert, in Kinder- & Fabrikheimen, psychiatrischen Kliniken, Strafanstalten, Pflegefamilien oder als Verdingkinder bei Bauernfamilien.
Ihre Kindheit und Jugend war geprägt durch Gewalt, Missbrauch, andauernde Bevormundung, Diskriminierung und Identitätsverlust.
Die Arbeit von Franziska Rothenbühler zeigt betroffene Kinder der Landstrasse und Schauplätze dieses schrecklichen Kapitels Schweizer Geschichte.
-
unterstützen | GO HELVEZIN “1-99” | SMS an 488
Start | Helvezin
Le vent nous portera
« Je n’ai pas peur de la route faudrait voir, faut qu’on y goûte fes méandres au creux des reins ft tout ira bien le vent l`emportera tout disparaîtra le vent nous portera ! »
Noir Désir, in der Version von Sophie Hunger
-
-
Im Frühling 2014 haben Jenische die Kleine Allmend in Bern besetzt. Mit dieser Aktion wollten sie auf die fehlenden Stand- und Durchgangsplätze in der Schweiz aufmerksam machen.
In der Schweiz leben ca. 35`000 Jenische, davon sind ca. 3`000 bis 5`000 vom Frühling bis Herbst auf der Reise. Dazu kommen noch einige hundert Sinti mit meist fahrender Lebensweise. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass 50`000 Roma in der Schweiz leben, welche allesamt sesshaft sind.
Ein Grossteil der im Wohnwagen reisenden, kehrt im Winter auf ihren Standplatz zurück. Da es nicht genügend Plätze hat, sind vor allem junge Familien gezwungen, das ganze Jahr im Wohnwagen zu leben. Ihre Kultur befindet sich im Wandel - so sind viele Berufe die von Jenischen, Sinti und Roma ausgeübt wurden so gut wie ausgestorben. Schulbildung und soziale Situation sind oft ebenfalls erschwerende Faktoren.
Dieser Aspekt der Arbeit von Franziska Rothenbühler gibt einen kleinen Eindruck vom Leben der reisenden Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz. Die Aufnahmen stammen aus dem Sommer 2014.
-
unterstützen | GO HELVEZIN “1-99” | SMS an 488
Start | Helvezin
Zitate und Fragmente
Die Rede von Alain Berset gibt den Bemühungen zur Selbstfindung und Vergangenheitsbewältigung der Jenischen und Sinti bundesrätliches Gewicht. Die offizielle Anerkennung als nationale Minderheiten ist der verdiente Lohn jahrzehntelanger Arbeit zahlreicher Aktivisten aus der Kultur der Jenischen und Sinti, sowie von ihr eng verbundenen Freunden. Die Porträts und die persönlichen Zitate machen einen kleinen Teil dieser Arbeit sichtbar.
-
-
unterstützen | GO HELVEZIN “1-99” | SMS an 488
Start | Helvezin
Capitano
Ein Land ohne Zigeuner sei kein freies Land, behauptet Pastor May Bittel. Er ist ein Jenischer aus Genf.
Doch wie frei ist das Leben der Fahrenden in der Schweiz wirklich?
-
-
Es ist einer dieser regnerischen Sommertage. Die Sonne versucht immer wieder den grauen Schleier am Himmel zu durchbrechen. Trotzdem ist es heiss und regnerisch. Die Stimmung wirkt bedrohlich. Kopfwehwetter beschreibt es wohl am besten. Es stinkt und zwar gewaltig. Beissender Gestank kommt von der Kläranlage, er bleibt mir buchstäblich auf der Zunge kleben. Auf dem Grenchner Transitplatz ist es alles andere als schön. Etwa zehn Wagen stehen in U-Form auf dem Areal, eingepfercht zwischen Autobahn und Flugplatz. Vorwiegend französische Fahrende, speziell aus Strasbourg, richten sich hier für etwa drei Monate ihr Zuhause ein. Der elektrische Strom funktioniert nicht. Jede Familie ist auf den eigenen Generator angewiesen der literweise Benzin schluckend, monoton vor sich hin brummt. Die WC-Anlage ist demoliert, das Waschbecken zertrümmert und kaputtgehauen, auf der Toilettentüre prangt ein Hakenkreuz. Seit zehn Jahren kommt Paul, ein Fahrender wie der Pastor, mit seiner Familie nach Grenchen. Die sanitären Anlagen hätten noch nie funktioniert, sagt er mir ganz beiläufig. Eine Alternative zu diesem Platz gebe es kaum.
Zum sechsten Mal komme ich an diesen Ort. Noch immer fühle ich mich nicht wohl. Ich knalle die Autotür zu und gehe in Richtung Platz. Kinder rennen mir entgegen. Sie freuen sich, mich zu sehen, das glaube ich wirklich. Währenddessen arbeiten die Männer hinter den Wohnwagen. Sie schleifen Fensterjalousien und malen sie neu. Erst danach bringen die Fahrenden die Fenster zurück und montieren sie an den gewohnten Platz. Arbeit zu finden sei schwierig, wird mir immer wieder versichert. Das Misstrauen gegenüber den Roma ist nach wie vor gross. Seit Wochen begegne ich immer wieder einem kleinen Jungen. Sein Name ist Capitano. Er hat Angst vor mir – und meiner Kamera. Damit er nicht wegrennen kann, ist er im Innern des Wohnwagens mit einem Tuch am Fensterrahmen festgemacht. Diese absurde Situation versucht seine Mutter nicht vor mir zu verstecken. Im Gegenteil, für sie ist es völlig normal. Capitano weint, lacht aber auch immer wieder. Ihn zu fotografieren ist schlicht unmöglich. Ich nähere mich dem Wohnwagen und bemerke wie mich Capitano beobachtet. Wenn sich unsere Blicke treffen senkt er seinen Kopf oder versteckt ihn hinter der schützenden Wand. Wir spielen ein Spiel.
Endlich schenkt mir Capitano ein Lächeln. Und ich wünsche ihm, dass er und sein Volk eines Tages die Freiheit erlangen, die sie sich so sehr herbeisehnen.
Franziska Rothenbühler
-